Blog-Formate gegen Perfektionismus und Schreibblockade

Blog-Formate gegen Standards, Perfektionismus und Schreibblockade | © 2021 Claus R. Kullak | Héctor J. Rivas / Unsplash | crk-res.de

Perfektionismus liebt Mindeststandards und Formate. „So kannst du das nicht machen“, ist praktisch die beste Schreibblockade. Zum Glück sind Blogs so flexibel.

Nota bene: Ich schreibe hier über Textarten für ein bestimmtes Medium. Was ich sage, lässt sich aber direkt auf andere Text (Roman, Geschäftsbrief) und jede Art kreativer Betätigung (Kochen, Skulptur) und vieles darüber hinaus (Ordnung im Werkzeugkasten, Jogging-Route) übertragen.

Auf Wikipedia gibt es diesen Textblock zur Markierung von und als Aufforderung zur Überarbeitung schwacher Artikel. Damit wird darauf verwiesen, dass ein Lexikon gewisse Mindeststandards erfüllen muss – welche im so markierten Text leider nicht erfüllt sind.

Die Redaktionsleiterin Dr. Brigitte Egger, unter der ich an der „Enzyklopädie der Neuzeit“ und den „Neue Pauly Supplementen“ arbeitete, brachte es wie folgt auf den Punkt:

Es muss sich für die LeserIn lohnen, dem Verweis zu folgen.

Mit Verweis meinte sie im konkreten Fall einen Querverweis oder einen Registereintrag innerhalb des Lexikons. Beide sind funktionell aber identisch mit Links und Suchergebnissen im Internet. Wir dürfen übertragen. Ohnehin ist „Content“, ein Inhalt, der Leser*innen für ihren Besuch eines Blogs mit echtem Mehrwert belohnt, in Web-Marketing-Ratgebern das Zauberwort #1.

Alles ist standardisiert

Yoast SEO, mein Plugin zur Search Engine Optimization (SEO), sagt mir gerade, dass dieser Text vor Beginn des Satzes, den du gerade liest, 149 Worte enthielt:

Dies liegt weit unter dem empfohlenen Mindestwert von 300 Wörtern.

Standards und Mindestwerte, wie dieser, sind aus verschiedenen Gründen notwendig. Einerseits soll so den Suchmaschinen, von denen da die Rede ist, eine Textmenge geboten werden, die hinreichend groß ist, damit sie einschätzen können, worum es in dem Text geht. (Etwas, das durch essayistische Schlenker wie meine Disgression, in welcher du immer noch steckst, deutlich erschwert wird.)

Andererseits soll dadurch ein Erwartungshorizont für die Leser*innen formuliert werden: Du bekommst mindestens 300 Worte Information. Auf den Link zu klicken, lohnt sich also. Oder: Keine Sorge, meine Texte haben immer weniger als 5.000 Worte. Dich erwartet keine Bleiwüste.

Standards sind frei

Ein Blog – kurz für Weblog – ist in erster Linie mal ein technisches Medium. Der Begriff ist abgeleitet von Logbuch, einem Gegenstand aus der Schifffahrt, worin Beobachtungen aufgezeichnet werden. Es handelt sich also konkret um eine Art Protokoll und – allgemeiner gesprochen – um eine Sammlung einzelner nicht unbedingt einheitlicher Texte.

Die vielen anderen Ecken dieser Web-Seite habe ich als „Magazin“ bezeichnet. Was ich sagen möchte kann man auch daran zeigen: Ein Magazin oder eine Tageszeitung sind ebenfalls Medien, in denen einzelne nicht unbedingt einheitliche Texte zusammengestellt sind. Aus dem Medium ergeben sich dabei – von der technischen Komponente, dass es sich um Print oder Web handelt, mal abgesehen – keine zwingenden Standards für die einzelnen Texte.

Texte in einem Logbuch erfüllen bestimmte Zwecke. Dasselbe gilt für Texte in einem Magazin oder einem Blog. Aus diesen Zwecken wurden unter Berücksichtigung der technischen Möglichkeiten und unter den historischen Bedingungen Standards für die Form der Texten festgelegt: der Magazinbericht, die Dreisatzmeldung, die Buchrezension.

Daraus folgt natürlich, dass diese Standards in hohem Maße beliebig werden, wenn eine der folgenden Bedingungen eintritt:

  • wenn der Zweck unter den historischen Bedingungen und technischen Möglichkeiten auch mit einer anderen Form erreicht werden kann
  • wenn der Standard aufrecht erhalten wird,
    • obwohl sich die historischen Bedingungen geändert haben
    • obwohl sich die technischen Möglichkeiten geändert haben
  • wenn ein anderer Zweck verfolgt wird.

Ein Standard als Schreibblockade

Kurz gesagt: Du bist an keinen Standard gebunden, nur weil er existiert. Du hast die Freiheit davon abzuweichen, andere Standards zu wählen oder auch selbst welche definieren.

Perfektionismus kann uns nämlich leicht in eine punktuelle oder anhaltende Schreibblockade führen. Er liebt Standardformate und Mindeststandards, weil er uns zwingt, uns mit diesen zu vergleichen. Und schon unterwerfen wir jeden Gedanken, jede Idee, jeden Satz, die wir im Kopf haben, einem solchen Vergleich, ohne zu überprüfen, ob besagte Standards für uns überhaupt in Frage kommen oder sinnvoll sind.

Die Lehre ist also: Verwende einen Standard nicht,

  • nur weil er ein Standard ist
  • wenn er deinem Zweck nicht dient (und hier liegt natürlich die größte Einschränkung deiner ‚Freiheit‘, denn manche Lizenz, die du dir nimmst, kann deinen Erfolg verhindern)
  • wenn er verhindert, dass du überhaupt etwas machst, weil er dich blockiert.

Eine Schreibblockade werden oft schlicht durch unbewusste oder bewusste Formvorstellungen oder qualitative Mindeststandards etc. hervorgerufen:

Ich kann X nicht schreiben, weil mir Y fehlt oder ich Z nicht erreiche.

Doch, du kannst X schreiben. Auch ohne Y und Z. Vor allem kannst du das in deinem Schreibprojekt oder auf deiner Web-Seite. Das sind ja keine Tageszeitungen (oder Lexika), die halt gedruckt sind, wenn sie mal gedruckt sind. Alles bleibt veränderbar. Alles ist ja noch im Fluß. Schreibprozesse bestehen immer aus mehreren Durchgängen. Selbstkontrolle, Lektorat, Korrektorat sind (oder sollten sein) immer Teil des Plans.

Perfektionismus ist kein Mindeststandard

Noch ein Wort zum Perfektionismus, dem krankhaften Versuch, einer nicht erreichbaren Idealvorstellung hinterherzuhecheln: Als Perfektionisten erliegen wir der Vorstellung, alles, das wir schaffen, müsse perfekt sein – und schon die kleinste Abweichung entwerte das Ganze nicht nur ein bisschen, sondern völlig. Perfektionistisch zu denken, bedeutet also, der irren Annahme zu unterliegen, der Mindeststandard für alles müsse sein, dass es absolut fehlerlos ist.

Die realistische Erfahrung nach 26 Berufsjahren größtenteils in der Medienbranche (gilt aber auch für jeden andere) besagt:

Nichts ist jemals fehlerfrei.

Das mag eine ärgerliche Feststellung für jemanden sein, der sein Geld mit der Beseitigung von Fehlern verdient. Aber es ist realistisch, denn der Aufwand, die letzte aller vorstellbaren Schwächen aus einem Text oder sonst irgendeinem Produkt zu beseitigen würde völlig unverhältnismäßige Kosten verursachen.

Der Widerspruch ist nun freilich offensichtlich: Nur das Perfekte ist gut genug. Perfektion ist aber ausgeschlossen. Kein Wunder also, dass unser Kopf streikt. Willkommen in der Schreibblockade.

Weg mit standardisierter Schreibblockade

Die Schlussfolgerung ist also denkbar einfach:

  • Wenn dein intrinsisches Ziel ist, einen Text zu schreiben,
  • oder wenn dein extrinsisches Ziel ist, etwas in Textform festzuhalten oder zu vermitteln,

deine Auffassung der Mindestanforderungen an einen Text aber so hoch sind, dass du gar nicht erst anfängst, dann widerspricht dieser Standard deinem Ziel und ist folglich zu verwerfen.

Zukünftig können wir uns immer noch damit befassen, wie sich unser Text optimieren lässt. Erst müssen wir aber alles über Bord werfen, was uns daran hindert, überhaupt einen zu schreiben. Es ist dabei gleichgültig, ob diese Optimierung sich auf eine zukünftige Version desselben Textes oder auf einen zukünftigen zweiten Text oder auf eine zukünftige zweite Version eines zukünftigen Textes bezieht.

Erst wenn wir unsere inneren Hürden – und hier konkret: die Schreibblockade – abgerissen haben, können wir anfangen. Deshalb formulieren wir die Mindestanforderung so, dass wir sie bewältigen können. Erst wenn wir angefangen haben, können wir Erfahrung gewinnen. Deswegen können wir uns mit der gewonnenen Erfahrung auch höheren Mindeststandards stellen.

Mach also erst einmal irgendwas. Später kannst du überarbeiten und etwas Besseres draus machen. Besser noch: Du kannst dich an etwas Neues wagen, das du besser machen wirst – denn auch ewig am selben Text herumzufrickeln, weil du die – mit Erfahrung nun möglichen – neuen Mindeststandards auf das Alte, mit geringeren Anforderungen Erschaffene, anzuwenden, birgt die Gefahr einer neuen Ursache für einen Blockade: dem Gefühl, nicht voranzukommen.

Ach ja, neue Blog-Formate

Klar, bestimmte Standards sind spannend: ein Sonnet zu schreiben beispielsweise. Und andere sind notwendig, denn kein Blog-System erlaubt dir einen Text ohne Titel – völlig den Umstand ignorierend, dass es vielen Menschen sehr schwer fällt, einen Titel für ihren Text zu finden.

Ich persönlich finde einen Vorspann sehr wichtig, denn irgendwie sollen die potentiellen Leser*innen ja auch wissen, worum es in einem Text geht. Und für Social Media braucht ein Blog-Beitrag natürlich auch ein Bild! Aber das kann für dich halt auch schon zu viel Hürde sein.

Für den Titel nimmst du also nur dein Lieblingswort und meinetwegen eine laufende Nummer. Oder nur die Nummer. Oder das Datum. Und alles andere findet sich dann, wenn du bereit dazu bist. Ja, später wird deine Buchrezension vielleicht auch eine Wertung, Genre- und Inhaltsangaben, das Cover, eine allgemeine Einordnung in Werk- und Zeitkontext enthalten. Oder auch nicht.

Ich für mich, der ich mich in der Regel an Standards wie journalistische Formate, Vollständigkeit, Stichhaltigkeit, gedankliche Durchdringung zu halten und den SEO-Empfehlungen zu folgen versuche, mache das jetzt so: Ich lege für mich vier neue Blog-Formate fest, die nichts davon erfüllen müssen.

  • Notizfetzen – was mir einfällt; hier und im Folgenden geht es natürlich darum, dass ich manches festhalten will oder – zur Sortierung meiner Gedanken – auch einfach festhalten muss
  • Leseprotokoll – was beim Lesen (oder in anderen Medien) aufnehme
  • Gedankenspiel – was sich beim Nachdenken über Zusammenhänge und Szenarios ergibt
  • Begriffsannäherung – was vielleicht mal in eine Begriffsbestimmung eingehen könnte

Ich werde Beiträge, die in diesem Format geschrieben sind, mit den entsprechenden Begriffen kennzeichnen, sodass alle potentiellen Leser*innen wissen, woran sie sind – sprich: welche Standards unerfüllt bleiben.

Meine Hoffnung ist, dass ich auf diese Weise einen Weg finde, etwas niederschreiben und offen zugänglich zu machen, ohne in meinen Gedanken und daraus folgenden meiner Schreibblockade so lange gefangen zu bleiben, wie es bei diesem Text der Fall war, weil ich mir so viele Voraussetzungen abverlange.

Zum guten Schluss möchte ich noch mal Yoast SEO zu Wort kommen lassen:

Der Text enthält 1493 Wörter. Großartig!

Addentum

So wird in einem Beitrag im Format Notizfetzen, Leseprotokoll, Gedankenspiel oder Begriffsannäherung darauf hingewiesen werden, was Leser*innen da an Finishing zu erwarten haben:

Hinweis: Bei diesem Text handelt es sich um einen Notizfetzen, ein Leseprotokoll, ein Gedankenspiel oder eine Begriffsannäherung. Diese Blog-Formate habe ich eingeführt, um dir schnelleren Zugang zu meiner Arbeit zu ermöglichen. Lies dazu ggf. die Beschreibung der neuen Blog-Formate. Abonniere den Newsletter für Updates. Wenn du Fragen oder Anregungen hast, schreibe gerne einen Kommentar.

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